„So geht es ja nicht! Hier können Sie nicht tagen!
Ich habe hier eine Vorlesung zu halten! Meine Studierenden warten draußen!“
Der aufgeregte Hochschullehrer mit den wirren Haaren bedrängt gestikulierend
eine freundlich lächelnde Dame, Typ makrobiotische Töpferin mit Lehrauftrag
an der Waldorfschule. Letztere verweist auf ihre Nichtzuständigkeit und
entfernt sich fluchtartig – noch immer lächelnd. Der Hochschullehrer
dreht sich um seine eigene Achse und sucht nach Zuständigkeiten.
Langsam füllt sich der Hörsaal. Meine Menschenkenntnis sagt mir: der
größte Teil der hier Anwesenden (mich vielleicht nicht ausgeschlossen)
gehört in eine therapeutische Schreibgruppe mit dem Ziel, die eigenen Unzulänglichkeiten
schreibend zu bewältigen. Einige Studierende hocken in den Reihen, fünf,
sechs ältliche Autorinnen und Autoren, die sich eine – vielleicht
die letzte – Chance erhoffen. Schließlich geht es um das Thema „Schreiben
lernen? Schreiben lehren!“ Ein zerknitterter Jungautor zerreißt
unaufhörlich beschriebene Papiere, wahrscheinlich seine Manuskripte.
Und los geht´s. Ein blaugewandeter Professor hält einen eitlen Einführungsvortrag.
(„Wie ich bereits in meiner Antrittsvorlesung betonte...“) Er vertritt
die Auffassung, dass Autorenlesungen die Lektüre ersetzen und daher besser
nicht subventioniert werden sollten. So´n Quatsch! Autorenlesungen sind
in jedem Fall Leseförderung. Die verschiedenen Begrüßungsformeln
und Allgemeinplätze dehnen sich fast bis zur Mittagspause. Nix Neues bisher.
Und dafür bin ich 300 Kilometer gefahren? Nach der Mittagspause soll es
ganz konkret werden, mit Visionen und Realismen professioneller Autorenausbildung.
Da – ein bekanntes Gesicht! Interesse zeigen macht sich immer gut.
„Woran arbeitest du denn gerade so?“
„Also, ich mach grad so´n poetisches Projekt über die Zeit,
verstehst du? Ich werde den Leuten mal zeigen, wie sie das Korsett der Zeit
ablegen können.“
„Hört sich gut an!“ kontere ich geschickt. Wir gehen zusammen
in die Mensa zum Essen. Der blaugewandete Professor hält Hof; ein paar
etablierte Autoren kuscheln sich in die Nähe der Ministerialdirigentin.
Meine anthropologischen Feldstudien sowie zwei Cappuccino verkürzen die
Mittagspause, es folgt der zweite, der wichtigere Teil des Symposions. Mein
Kollege mit dem Zeit-Projekt verabschiedet sich schon jetzt: „Ich setz
mich mal ganz nach hinten, muss nachher bisschen früher weg, hab nicht
so viel Zeit heute.“ Der blaue Professor ist nicht mehr erschienen.
Der Vertreter des Schriftstellerverbandes teilt mit, dass sein Vortrag etwas
dröge ausfallen werde (er hält Wort) und dass noch kein Meister vom
Himmel gefallen sei. Wieder etwas dazugelernt!
Der Satz „Meine Freunde im Osten würden es Kollektiv nennen, ich
sag einfach mal Gruppe...“ provoziert eine Absolventin des damaligen Johannes
R. Becher Instituts dermaßen, dass sie an den Verursacher der oben zitierten
Aussage ein paar aufgebrachte Sätze des Unverständnisses bzw. der
Unvereinbarkeit Ost-Westlicher Befindlichkeiten richtet. „Denken Sie da
mal drüber nach!“ Bedenklich...
Was ich im Hildesheimer Symposion trotz allem gelernt habe bzw. was festzuhalten
ist:
- Die Kunst des Schreibens ist – ein Mindestmaß an Talent vorausgesetzt
– durchaus lehr- bzw. lernbar. Die Gründung weiterer Akademien, vergleichbar
der in Leipzig, ist wünschenswert.
- Der Leiter einer Literaturwerkstatt sollte mehr Lektor als Kritiker sein.
Er muss über künstlerische Kompetenz verfügen und ein eigenes
literarisches Profil aufweisen. Die Meinung des Werkstättenleiters darf
nicht zu dominant sein. Er sollte den Lehrprozess so organisieren, dass er das
Selbstlernen der Studierenden fördert. Ideal wäre eine größtmögliche
Strenge, gepaart mit größtmöglicher Sachlichkeit.
- Der Oberbegriff sollte nicht (Achtung! Verbrauchter Begriff!) in Anlehnung
an die US-Variante Creative Writing „Kreatives Schreiben“ lauten.
Besser ist „Literarisches Schreiben“ oder „Künstlerisches
Schreiben“.
- Die entsprechende Institution sollte nicht „Schreibwerkstatt“
sondern „Literaturwerkstatt“ heißen.(Schreiben lehrt im Idealfall
die Grundschule.)
- Es gibt (nach H.-J.Ortheil) drei unterschiedliche Schreibcharaktere:
1. Der episch-fabulierende Typ hat einen starken Zeit- und Handlungsbezug. Ihm
gelingt zwar der sofortige Einstieg in die Geschichte, doch hat er Mühe,
den weiteren Verlauf zu lenken; seine Figuren ähneln sich sehr stark. Er
liest sehr viel, ist auch entwicklungsfähig, doch zeigt er Mängel
in der Stilistik.
2. Der bildlich-anschauliche Typ; ihm fällt der Einstieg in die Geschichte
schwer. Er hat eine enge Bindung zur Kunst, schreibt knapp, äußerst
präzise, ist jedoch ständig auf der Suche nach dem Faden, nach dem
Zusammenhang.
3. Der phonetisch-klangliche Typ schreibt extrem sprachspielerisch und hochgradig
originell. Nicht selten weicht er die Handlung zugunsten der Phonetik auf. Er
zeigt eine starke Anlehnung an die Musik und Sinn für klangliche Kontraste.
Er benutzt viele Metaphern.
- Die Umgebung, die Atmosphäre einer Literaturakademie muss stimmen (Architektur,
Bäume, Park, Alleen, Haine...) Ganz offensichtlich bestehen am Deutschen
Institut für Literatur in Leipzig ganz ideale Bedingungen. (Burkhard Spinnen
berichtete informativ und pointiert.)
- Das Hauptaugenmerk des hiesigen Autors ist (noch immer) auf sich selbst gerichtet,
das seines US-amerikanischen Kollegen auf den Leser.
- Benutze weniger Adjektive!
- Symposien sind nicht selten hervorragende Lieferanten realsatirischen Rohmaterials.
PS Die Hildesheimer Visionen hätte ich mir etwas problemorientierter, etwas mehr zielgerichtet und die vorgetragenen Realismen etwas konkreter gewünscht. Aber wie sagte schon Adorno? „Das Publikum hat ein Recht darauf, nicht zu bekommen, was es verlangt.“
Kai Engelke